Gerrit Engelke: Lokomotive (1912)

 

In unserer Schulzeit, es dürfte wohl in der 8. Klasse gewesen sein - wir waren bereits intensiv vom Dampflokvirus befallen - präsentierte uns unser damaliger Deutsch-Lehrer ein Gedicht, das sich in meinem Gedächtnis festgesetzt hat. Über viele Jahre schlummerte es so vor sich hin. Als Erwachsener erinnerte ich mich, dass das Thema die Dampflokomotive war und außerdem hatte ich den ersten Vers noch irgendwie im Ohr: "Da liegt es, das zwanzig Meter lange Tier ..." oder so ähnlich. Immer wieder einmal habe ich in Büchern danach gesucht, aber weder das Gedicht noch den Verfasser gefunden. In Internet-Zeiten ist das kein Problem. Google und Co sind trotz aller berechtigter Kritik schon auch eine faszinierende Errungenschaft. Das Gedicht heißt "Lokomotive" und wurde 1912 vom Arbeiter-Dichter Gerrit (eigentlich Heinrich Gerhard) Engelke aus Hannover verfasst, der nur 28 Jahre alt wurde und 1918 am Ende des 1. Weltkrieges aufgrund einer Kriegsverletzung starb. Er war im Hauptberuf Lackierer bei den Hanomag-Werken und dürfte zwischen 1910 und 1916 so manche Dampflok bepinselt haben. Veröffentlicht wurde das Gedicht übrigens erstmals in der Hanomag- Festschrift zur 10 000. Lok von 1922, die vor einigen Jahren als Nachdruck aufgelegt wurde. An manchen Stellen ist das Gedicht ein bisschen holprig, aber man spürt trotzdem, der Verfasser war von dieser Maschine fasziniert. Was er wohl für eine Lokomotive vor Augen hatte, als er den Text geschrieben hat? Sechzehn rote Räderpranken, 20 Meter lang, 16 bar Überdruck - es kann nur eine preußische Lok gewesen sein, die der Hannoveraner zum Vorbild seiner Verse nahm.

 

 

Die Lokomotive

Da liegt das zwanzig Meter lange Tier,
die Dampfmaschine,
auf blank geschliff’ner Schiene,
voll heißer Wut und sprungbereiter Gier...
Da lauert, liegt das langgestreckte Eisenbiest –
Sieh da, wie Öl- und Wasserschweiß
wie Lebensblut, gefährlich heiß,
ihm aus dem Radgestänge, den offenen Weichen, fließt.
Es liegt auf sechzehn roten Räderpranken,
fiebernd, langgeduckt zum Sprunge,
und Fieberdampf stößt röchelnd aus den Flanken.
Es kocht und pocht die Röhrenlunge –
Den ganzen Rumpf die Feuerkraft durchzittert:
Er ächzt und siedet, zischt und hackt
im hastigen Dampf- und Eisentakt –
Dein Menschenwort wie nichts im Qualm zerflittert.
Das Schnauben wächst und wächst –
Du, stummer Mensch, erschreckst.
Du siehst die Wut aus allen Ritzen gären –
der Kesselröhren Atemdampf
ist hochgewühlt auf sechzehn Atmosphären!
Gewalt hat jetzt der heiße Krampf:
Das Biest, es brüllt, das Biest, es brüllt,
der Führer ist in Dampf gehüllt.
Der Regulatorhebel steigt nach links;
der Eisenstier harrt dieses Winks...
Nun bafft vom Rauchrohr Kraftgeschnauf:
Nun springt es auf! Nun springt es auf!

Und ruhig gleiten und kreisen auf endloser Schiene
die treibenden Räder hinaus auf dem blänkernden Band;
gemessen und massig die kraftangefüllte Maschine,
der schleppende, stampfende Rumpf hinterher...
Dahinten – ein dunkler, verschwimmender Punkt,
darüber  –  zerflatternder  –  Qualm...

Gerrit Engelke (1912)